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Atompolitik > Merkel: Ausstieg aus dem Ausstieg (2010)

Rücknahme des Atomkonsenses

Angela merkel unna 2010

Angela Merkel

Während der großen Koalition mit der SPD (2005-2009) blieb der unter Schröder beschlossene Atomkonsens zunächst bestehen.

Nach der gewonnenen Bundestagswahl 2009 plante die neue schwarz-gelbe Koalition eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken .[1]

In einem Grußwort zum 50. Jubiläum der Lobbyorganisation Deutsches Atomforum erklärt Merkel am 1. Juli 2009, dass Atomenergie einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung leiste. Bis 2020 sollten 30 % durch erneuerbare Energien, 70 % des Stroms durch andere Energien, darunterAtomkraft, gedeckt werden. Atomkraft trage dazu bei, "dass Deutschland ein zukunftsfähiges Land bleibe."[2]

Der Laufzeitverlängerung ging eine längere Debatte in der Koalition voraus. Rainer Brüderle (FDP) forderte 15 Jahre.[3] Horst Seehofer (CSU) plädierte im Juli 2010 sogar für eine unbegrenzte Laufzeitverlängerung.[4] Derselbe Seehofer, der nach Fukushima so vehement den Atomausstieg propagierte.

Vereinbarung zur Laufzeitverlängerung

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Merkel über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken

Merkel zur Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken (hochgeladen in YouTube am 14. September 2009)

Frontal_21_-_Laufzeitverlängerung_Atomkraft

Frontal 21 - Laufzeitverlängerung Atomkraft

ZDF: Frontal 21 - Laufzeitverlängerung Atomkraft von 17. August 2010

Am 5. September 2010 schlossen Regierung und Energiekonzerne eine neue Vereinbarung, in der die Laufzeiten verlängert werden und die Energiekonzerne im Gegenzug eine Brennelementesteuer zahlen sollten.[5]

Am 28. September 2010 wurden im Bundestag die entsprechenden Gesetzesvorlagen angenommen[6] , in denen es heißt:

"Die Laufzeit der 17 Kernkraftwerke in Deutschland wird (...) um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Bei Kernkraftwerken mit Beginn des Leistungsbetriebs bis einschließlich 1980 wird die Laufzeit um acht Jahre verlängert, bei den jüngeren beträgt der Zeitraum der Verlängerung 14 Jahre. Die Verlängerung der Laufzeiten eröffnet auch die Möglichkeit, die Finanzierung in den Bereichen erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu verstärken."[7]

Nachdem anfangs der Bundesrat nicht eingebunden war, weil die Regierung seine Zustimmungspflicht anzweifelte, reichten die Opposition, die Bundesländer und Greenpeace verschiedene Verfassungsklagen ein. Am 26. November 2010 bestätigte der Bundesrat den Beschluss zur Laufzeitverlängerung.[8]

Anfang 2011 trat die "Kernkraftstoffsteuer" in Kraft, die bis 2016 ungefähr 14 Mrd. Euro in die Kassen des Bundes spülen sollte. Damit sollten der Haushalt saniert und die Sanierungskosten für die Asse gedeckt werden.[9]

Kritik und Proteste

Im "Stern" wurde die Vorgehensweise Merkels am 9. September 2010 als "Kungelei" kritisiert: "Es gab nicht den geringsten Grund, nach stundenlanger Beratung des Energiekonzepts im Morgengrauen noch schnell einen privatrechtlichen Vertrag mit den Atomkonzernen auszuhandeln und blitzschnell zu unterschreiben, ihn aber nicht zu veröffentlichen." Es wurde vermutet, dass sich die Industrie für die Vereinbarung "gut bezahlen" ließ und die Regierung auf Nachrüstungsforderungen verzichtete.[10]

In der "Süddeutschen Zeitung" wurde die Vereinbarung als "Lobbyismusexzess in der Sommernacht" kritisiert. Diese wurde nur vom Bundesfinanzministerium mit Unterstützung des Bundeskanzleramtes ausgehandelt; der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war nicht eingebunden. "Die Regierung Merkel hat sich und das Land im Spätsommer und Frühherbst 2010 noch einmal in das nukleare Gefängnis gesperrt (...)."[11]

Bemängelt wurde vom Bundestagspräsidenten Lammert, dass die Vereinbarung zur Laufzeitverlängerung im Bundestag in nur einem Tag durchgedrückt wurde, so dass die Abgeordneten keine Zeit hatten, sich in die Details einzuarbeiten. Außerdem hatte die Bundesregierung das Gesetz so formuliert, dass der Bundesrat nicht zustimmen musste, obwohl die Belange der Bundesländer wegen deren verlängerter Aufsichtspflicht durchaus betroffen waren. Der überhastete Beschluss löste Zweifel an dessen demokratischer Legitimation aus und wurde aufgrund der fehlenden Zustimmung des Bundesrats von manchen Beobachtern, wie z. B. dem renommierten Verfassungsrechtler Christian Pestalozza, sogar als verfassungswidrig angesehen.[12]

Die_Laufzeitverlängerung_von_Schwarz-Gelb,_gegen_den_Sachverständigenrat_der_eigenen_Regierung

Die Laufzeitverlängerung von Schwarz-Gelb, gegen den Sachverständigenrat der eigenen Regierung

3sat, veröffentlicht auf YouTube am 28. September 2010

Kritik an der Laufzeitverlängerung kam auch von Interessensverbänden aus der Wirtschaft sowie Institutionen und Gremien, wie z. B. dem Umweltbundesamt (UBA) und dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU).[13]

Die Laufzeitverlängerung wurde von massiven Protesten hundertausender Bürger begleitet und mehrheitlich von der Bevölkerung abgelehnt: "Nach Umfrageergebnissen im Sommer 2010 sind 77 Prozent der Deutschen gegen eine Laufzeitverlängerung von 15 Jahren oder mehr, 48 Prozent sind gegen jegliche Laufzeitverlängerung."[8]

Diktat der Atomkonzerne

Mit etwas zeitlichem Abstand fragt man sich, warum Merkel die Laufzeitverlängerung mit solcher Vehemenz durchsetzte, dieselbe, die sie nach Fukushima mit der gleichen Entschlossenheit widerruf. Dass die Mehrheit der Bevölkerung die Atomkraft ablehnte, war ihr sicher bekannt. Schröder hatte mit dem Atomkonsens eine Einigung erzielt, mit der alle gut leben konnten. Auch in ihrer großen Koalition mit der SPD von 2005 bis 2009 war der Atomkonsens kein Problem gewesen. War es ein Zugeständnis an den wirtschaftsfreundlichen Koalitionspartner FDP? Wollte sie die Tradition Kohls wiederaufleben lassen? Ging es um die Brennelementesteuer? Von den geplanten 2,3 Mrd. Euro jährlich blieben nur noch 1,5 Mrd. Euro übrig: Die Atomkonzerne erreichten in den Verhandlungen eine Reduzierung der Brennelementesteuer und der Förderung erneuerbarer Energien.[14]

Monitor_09.09.2010_-_Laufzeitverlängerung_der_Atomkraftwerke

Monitor 09.09.2010 - Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke

Monitor vom 9. September 2010 - Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke

Der damalige Bundesumweltminister Röttgen, der sich im August 2010 gegen eine Laufzeitverlängerung gewehrt hatte[15], erklärte im Juli 2011, dass diese durch die Atomlobby diktiert wurde. Röttgen "habe die Verlängerung als "eine Erfahrung von Lobbyismus und wirtschaftlicher Interessenvertretung" erlebt. Er habe damals sogar seinen Rücktritt erwogen. Die Interessen hinter der Verlängerung seien "sehr deutlich, sehr massiv und sehr finanzstark" gewesen, sagte der Minister in einem Beitrag über die deutsche Atomindustrie."[16]

Die Laufzeitverlängerung hätte den Atomkonzernen, je nach Strompreis, 31 bis 68 Mrd. Euro zusätzlichen Profit eingebracht,[17] nach Berechnung des Öko-Instituts in Freiburg sogar 94 Mrd. Euro,[18] wenn nicht kurz danach die Fukushima-Katastrophe und der zweite Ausstiegsbeschluss erfolgt wären.

Informationen zur Einflussnahme der Atomlobby finden Sie unter → AtomkraftwerkePlag: Laufzeitverlängerung 2010.

Sicherheitsbestimmungen reduziert

Alte_Atomkraftwerke_-_Fragwürdige_Sicherheit_-_ARD

Alte Atomkraftwerke - Fragwürdige Sicherheit - ARD

(hochgeladen in YouTube am 10. Mai 2010)

Es scheint, als wurde die Laufzeitverlängerung beschlossen, ohne auf mögliche Sicherheitsrisiken zu achten. Dies legen zwei Studien des "Büros für Atomsicherheit" unter Professor Wolfgang Renneberg nahe. In einer Studie vom Juni 2010, wenige Monate vor dem Beschluss zur Laufzeitverlängerung, wurde festgehalten, dass die alten deutschen AKW nicht mehr den durch die schwarz-gelbe Koalition 1994 festgelegten Sicherheitsanforderungen genügten, Alterungserscheinungen zeigten und deswegen ein großes Risiko darstellten.[19]

Eine weitere Studie verdeutlichte, dass die Laufzeitverlängerung durchgesetzt wurde, ohne dass Sicherheitsprüfungen und Nachrüstungen erfolgten. Im Interesse der Laufzeitverlängerung wurden die Sicherheitsbestimmungen reduziert und das Klagerecht beseitigt, womit Merkels Vereinbarung mit den Energiekonzernen nach Ansicht des Büros für Atomsicherheit gegen die Verfassung verstieß.[20]

Merkel: Atomausstieg II (2011)

(Letzte Änderung: 20.03.2023)

Einzelnachweise

  1. RP Online: Joschka Fischer berät Atomkonzerne - "Ich bin jetzt Unternehmer" vom 8. November 2011
  2. kernenergie.de: 50 Jahre Deutsches Atomforum (via WayBack) vom 1. Juli 2009
  3. FR Online: Brüderle für Laufzeitverlängerung vom 20. Juni 2010 (via WayBack)
  4. Spiegel Online: Seehofer für unbegrenzte Laufzeitverlängerung vom 31. Juli 2010
  5. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB): Atom-Laufzeiten werden gestaffelt (Archiv abgerufen am 15. März 2023
  6. bundestag.de: Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zugestimmt abgerufen am 15. März 2023
  7. Deutscher Bundestag: Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Drucksache 17/3051) vom 28. September 2010
  8. 8,0 8,1 Wikipedia: Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke abgerufen am 15. März 2023
  9. nordbayern.de: Atomsteuer tritt ab Januar in Kraft vom 26. November 2010 (via WayBack)
  10. stern.de: Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken: So nicht Frau Kanzlerin! vom 9. September 2010
  11. Süddeutsche.de: Lobbyismusexzess in der Sommernacht vom 3. Juli 2011
  12. Sascha Adamek: Die Atomlüge. Heyne, München 2011, S. 124ff.
  13. Joachim Radkau & Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. oekom, München 2013. S. 359.
  14. Sascha Adamek: Die Atomlüge. Heyne, München 2011, S. 109-113.
  15. Welt Online: SPD droht mit Verfassungsklage im Atomstreit vom 22. August 2010
  16. n-tv.de: "Atomlobby diktierte die Politik" - Röttgen wollte hinwerfen vom 20. Juli 2011
  17. taz.de: Ausgedacht und vorgeführt vom 29. Oktober 2011
  18. Sascha Adamek: Die Atomlüge. Heyne, München 2011, S. 109.
  19. Büro für Atomsicherheit: Studie: Risiken alter Atomkraftwerke vom Juni 2010 (via WayBack)
  20. Büro für Atomsicherheit: Studie: Technische und rechtliche Bewertung der Laufzeitverlängerung abgerufen am 15. März 2023 (via WayBack) und docplayer.org: Die Atomgesetznovelle und das Nachrüstungsprogramm der Bundesregierung vom Oktober 2010
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